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19/07/2018

Blaue Semmeln

Es waren einmal die Waldwichtel. Sie waren eng verwandt mit den Heinzelmännchen. Das friedliche Völkchen, welches aus nahezu tausend Wichteln bestand, lebte in den tiefen Wäldern. Mit all den Tieren im Wald verstanden sie sich prächtig. Die Menschen wussten zwar von ihnen, aber kaum einer hatte sie jemals gesehen. Einmal im Jahr durfte ein Wichtel einem Menschen in Not helfen. Der konnte dann auch den Wichtel mit eigenen Augen sehen und auch mit ihm sprechen. Der kleinste und frechste Wichtel war Norbert. Von ihm handelt diese Geschichte.
Ein Bäcker hatte einen kugelrunden Kopf, auf dem kein einziges Härchen wuchs. Und das sah aus, als ob er anstelle des Kopfes eine frisch gebackene Semmel hätte. Dem Bäcker ging es gar nicht gut. Beim Bücken zwickte es ihm arg im Rücken, die schweren Mehlsäcke konnte er kaum heben. Deshalb war er oft missmutig und schlecht gelaunt. Bald wollte niemand mehr bei dem Miesepeter einkaufen. Dadurch wurde er noch griesgrämiger, weil er kaum genug mehr zum Leben hatte. Darum gin er eines Tages in den tiefen Wald, um gegen den gröbsten Hunger ein paar Beeren und Nüsse zu sammeln. Beim Bücken nach den Früchten des Waldes stöhnte und ächzte er zum Steinerweichen. Der Wichtel Norbert saß auf einem am Boden liegenden Baumstamm und beobachtete ihn dabei. Der jammernde Bäcker tat ihm leid, sodaß er nachsann, wie dem armen Bäcker zu helfen sei. Bald hatte Norbert auch eine Idee.
Als sich der Bäcker erneut nach einer Nuss bückte, erschrak er erstaunt und blickte in das Antlitz eines winzigen Männchens. Es hatte eine quietschgelbe Mütze auf dem Kopf und trug eine himmelblaue Latzhose. Der Bäcker schüttelte sich und konnte kaum glauben, was er da sah. Als das Männchen auch noch zu sprechen begann, wäre er beinahe ohnmächtig nach hinten umgefallen.
"Grüß dich, Semmel. Ich bin der Norbert."
Nach ein paar Schrecksekunden hatte sich der Bäcker wieder erholt und murmelte: "Jetzt spricht das Männlein auch noch mit mir. Gggggrüüüß dich, Nnor..Norbert. Gggibt es dddich wwwwirklich..?"
Doch Norbert lachte laut: "Mich gibt's wirklich! Ich bin ein Waldwichtel. Ihr Menschen kennt uns doch. So weißt du auch sicherlich, daß einer von uns Wichteln den Menschen einmal im Jahr helfen will. Dieses Jahr bin ich dazu erwählt worden. Ich weiß auch schon wie ich dir helfen kann, damit es dir wieder besser geht."
Der alte Bäcker nickte nur ungläubig mit dem Kopf.
Der Wichtel sprach weiter: "Eine einzige Bedingung stelle ich allerdings. Du musst mir eine Schlafstelle einrichten und jeden Tag zu essen geben."
"Das lässt sich machen", brummte der Bäcker, der seine Stimme wieder gefunden hatte. "Lass uns in meine Backstube gehen und sehen, was du für mich tun kannst."
Dort angekommen, sah sich Norbert erst genau darin um. Die großen Schüsseln, Rührbesen und die verschiedenen Kuchenformen beeindruckten ihn. Und erst der riesige Backofen. Schnuppernd zog er seine Nase in die Höhe.
"Was riecht denn hier so fein?" fragte er.
"Das sind meine frisch gebackenen Semmeln." Und seufzend setzte der Bäcker hinzu: "Aber wahrscheinlich will die auch keiner kaufen..."
Norbert schüttelte den Kopf: "Das gibt's doch gar nicht. Die duften so toll, die muss man doch einfach mögen!"
"Na, die Semmel mögen sie wohl, aber mich können sie anscheinend nicht ausstehen. Ich weiß ja selber, daß ich so ein alter Muffelkopf bin. Aber mir tun alle Knochen weh."
Norbert kratzte sich den Kopf: "Wo genau ist denn der Schmerz?"
Der Bäcker krümmte mit schmerzverzerrtem Gesicht seinen Rücken und zeigte Norbert die Stelle.
"Das haben wir gleich", schmunzelte Norbert, schnippte drei Mal mit den Fingern und drehte sich einmal um sich selbst. Und schon hielt er ein kleines Tiegelchen mit einer wohlduftenden Salbe in den Händen. Sogleich schmierte er dem ungläubig dreinschauenden Bäcker die schmerzenden Stellen ein. Sogleich verschwanden die Schmerzen.
"Norbert! Ich kann es kaum glauben. Mein Rücken tut mir überhaupt nicht mehr weh!"
"Na, dann los! Lass uns gleich neue Semmel backen und auf dem Markt verkaufen."
Norbert wurde mit einem Male ganz lebendig. Und auch der alte Bäcker war ganz eifrig dabei, seinen Teig zu kneten. Nach getaner Arbeit schoben sie die kugelig geformten Teigstücke in den Ofen. Norbert schickte den Bäcker mit den Worten ins Bett: "Ruh' dich ein Bisschen aus! Den Rest schaffe ich auch allein."
Norbert war wie alle Wichtel ein hilfsbereiter guter Wicht, der auch für sein Leben gern Unfug trieb.
"Weißes Mehl und weiße Semmel, wie langweilig!" überlegte er. "Da muss Farbe hinein! Jaaa! Blaue Farbe! So himmelblau wie meine Hose..."
Juchzend hüfte er in der Backstube umher.
"Aber wie kriege ich die Semmel blau? Hmm, da war doch vorhin etwas bei den Zutaten hinten im Regal..."
Tatsächlich fand Norbert eine Tüte mit blauem Pulver. Er setzte einen weiteren Teig an, gab zum Schluss die blaue Farbe hinzu und verrührte den Teig gründlich.
"Hihihi, das sieht himmlisch blau aus!" freute er sich.
Ein Stimmchen in seinem Kopf aber wisperte leise: "Das sieht aber eher nach ordentlich Bauchweh aus - hoffentlich passiert kein Unglück!"
Norbert schüttelte den Kopf: "Das ist doch aus getrockneten Beeren gemacht. Der Bäcker färbt doch damit immer die Buttercreme für seine Heidelbeertorte. Und von dieser kriegt man das Bauchweh, wenn man davon zuviel isst. Heute erlebt der Bäcker sein blaues Wunder."
Norbert kicherte und holte die fertigen Semmel aus dem Ofen: "Die hat bestimmt noch niemand gesehen!"
Als der Bäcker am nächsten Morgen die frischen blauen Semmel in seinem Verkaufskorb fand, rieb er sich die Augen uns konnte nicht glauben, was er da sah. Dann blickte er auf Norbert, der auf dem Rand der Rührschüssel saß und sich ein breites Grinsen nicht verkneifen konnte.
"Na warte, Bürschchen! Gleich erlebst du dein blaues Wunder!"
Ganz aus Versehen stieß er an die Rührschüssel, die Norbert erneut mit blauer Farbe gefüllt hatte. Der Wichtel konnte sich nicht halten und plumpste in die blaue Masse.
"Hilfe! Hilfe! Hol mich hier raus!" schrie Norbert und ruderte wild mit seinen Armen.
Der Bäcker grinste und sagte: "Erst, wenn du mir sagst, wie du den Teig blau gefärbt hast. Soll ich jetzt etwa den gesamten Teig fortwerfen?"
"Nein! Nein, bitte nicht!" schrie Norbert erneut. "Das ist doch nur das Fruchtpulver für die Heidelbeertorte!"
Nun schmunzelte der Bäcker: "Ahh, ich verstehe. Komm, mein kleiner blauer Wicht."
Er nahm Norbert aus dem Teig heraus und setzte ihn in ein kleines Schüsselchen mit warmem Wasser. Als Norbert wieder sauber war, wickelte der Bäcker ihn in einen flauschigen Waschlappen. Norbert war nach diesem Abenteuer ganz schläfrig geworden und wollte nur noch schlafen.
Doch der Bäcker hatte noch eine Überraschung für ihn: "Norbert, eigentlich hast du mir sehr geholfen. Du hast meinen Rücken geheilt. Und du hast meine Semmel blau gefärbt. Dafür hast du dir eine Belohnung verdient. Daß die Farbe Geschmackssache ist, will ich mal gelten lassen. Aber sieh mal, ich habe hier ein wunderschönes Häuschen für dich. Darin darfst du wohnen, so lange du möchtest."
Der Bäcker holte hinter seinem Rücken ein Kekshäuschen hervor und setzte den ungläubig dreinblickenden Wichtel hinein. Zum Dank, daß der Bäcker den Wichtel nun in diesem Häuschen wohnen ließ, schickte Norbert ihm von nun an jede Nacht weitere köstliche Backrezepte. Der Bäcker probierte alle aus und bot sie zum Kauf auf dem Markt an. Bald sprach sich das herum und Menschen aus aller Welt wollten seine Köstlichkeiten haben.
Und wenn sie nicht gestorben sind...

11/06/2018

Der Wanderer


Es war einmal ein kleiner Junge, der hieß Thomas und war etwa 12 Jahre alt. Er wohnte mit seiner Großmutter etwas außerhalb eines Dorfes. Seine Eltern waren vor vielen Jahren bei einem Lawinen-Unglück ums Leben gekommen und so wurde er vom Pfarrer zu seiner Großmutter gebracht. Die alte Frau war schon ganz grau und gebeugt vom Alter, doch auf ihren Lippen lag immer ein freundliches Lächeln, und nur selten sprach sie ein böses Wort.
Thomas mochte seine Großmutter, denn sie konnte so schöne Geschichten erzählen. Da half er ihr auch gern im Haus, wenn er dafür abends in seinem Bett liegen und den wunderbaren Geschichten lauschen konnte. Eine mochte er besonders gerne: Die Geschichte von den Einhörnern des Winters. Seine Großmutter erzählte sie jedes Jahr, wenn der erste Schnee fiel. Sie erzählte, wie die Einhörner, wundersame Wesen in den endlosen Weiten der Wälder, mit dem ersten Schnee aus dem Wind und dem kalten Weiß entstanden. Thomas glaubte nicht so recht an die Einhörner, er hielt die Sage für eine Geschichte, die im Kopf eines halb erfrorenen Mannes entstanden war, als er einen kleinen Schneewirbel gesehen hatte. Doch er sagte nichts, denn er mochte seine Oma und ihre liebevoll erzählten Geschichten.
Eines Tages, als es draußen bitterkalt und stürmisch war, klopfte es an der Tür. Es war spät am Nachmittag, und die alte Frau fragte sich, wer denn zu so später Zeit noch herkommen könnte. Sie öffnete, und vor ihr stand ein halb erfrorener müder Wanderer. Sie bat ihn herein und wies Thomas an, einen Kessel mit Wasser heiß zu machen.
Der Wanderer war so steif, daß er seinen Mantel nicht von allein ausziehen konnte, so half ihm Thomas dabei. Die Großmutter kochte derweil einen heißen Pfefferminztee und schenkte dem armen Mann eine Tasse ein. Dieser trank vorsichtig und dankbar, und dann hub er an zu erzählen.
"Vielen lieben Dank, daß Sie mir die Türe geöffnet haben. Ich bin ein Händler aus den südlichen Landen und war hierher mit meinem Schlitten unterwegs, um einige Waren zu verkaufen. Doch eines unserer beiden Pferde strauchelte und brach sich das Bein. Ich musste es erschießen. Doch unser Schlitten ist zu schwer für nur ein Pferd, und so ging ich los, um Hilfe zu holen. Mein Sohn wartet noch dort draußen und bewacht die Waren, ich ließ ihm das andere Pferd, damit er nicht erfrieren würde."
Die Großmutter schüttelte den Kopf. Immer wieder der Leichtsinn der südlichen Händler. Warum nur nahmen sie keinen Führer, der sie sicher durch die schneebedeckte Landschaft führen konnte?
"Wir haben auch ein Pferd, aber wir brauchen es selbst. Doch Thomas könnte mitkommen und Ihren Schlitten hierher bringen, dann können Sie beide hier übernachten."
Thomas sah sie mit großen Augen an. Noch nie hatte er so ein Abenteuer erlebt. Er kannte sich im Wald gut aus, und seine Großmutter wusste das. Er war so froh, daß sie es ihm erlaubte, dem fremden Mann zu helfen.
"Ich danke Ihnen."
Die Großmutter winkte ab. Für sie war es selbstverständlich zu helfen - konnte sie doch den armen Mann nicht draußen erfrieren lassen, noch dazu, wo jetzt die Zeit der Wölfe anbrach, die jetzt immer hungriger wurden und auch schon einmal den Behausungen der Menschen nahekamen. 
"Beeil dich nur, es wird schnell dunkel", sagte sie Thomas noch, dann schloss sie die Tür hinter ihm und bereitete einen warmen Zuber vor.
Thomas ging durch den tiefen Schnee zum angrenzenden Stall, wo er der großen Stute die Zügel anlegte. Dabei bemerkte er nicht ohne Stolz, wie der Händler ihn beobachtete, als er das gut genährte und gepflegte Tier fertigmachte. Die Stute war schwarz wie die Nacht, ein Friese mit langer Mähne und wehendem Schweif, und ihr Winterfell war sehr dick. Hier in den Wäldern waren Pferde eine Seltenheit, und Thomas war nicht zu Unrecht stolz auf dieses Tier.
So stapfte er also hinter dem Händler her und ließ sich von ihm Geschichten aus dem Süden erzählen, denn er war neugierig und wollte alles hören, was er nur erfahren konnte. Der Weg bis zum verunglückten Schlitten war lang, doch wenigstens schneite es nicht und war noch ein wenig hell, sodaß sie die Spuren des Händlers zurückverfolgen konnten. Als sie den Schlitten erreichten, war es schon fast dunkel geworden, und Thomas spürte, wie die Kälte mit eisigem Griff alles umhüllte. Rasch schirrte er die Stute an, die den nebenstehenden Hengst neugierig beschnupperte.
Der Sohn des Händlers war ein wenig älter als er, vielleicht schon 16. Aber er war genauso neugierig auf Thomas wie dieser auf ihn, und so erzählten sie sich gegenseitig Geschichten, während sie zurück zum Hause der Großmutter fuhren. Nicht lange, und es kam ein heftiger Wind auf. Thomas schnürte seine Kapuze fester.
"Packen Sie sich gut ein, es fängt gleich an zu schneien!" 
Die Warnung kam gerade rechtzeitig, denn ganz plötzlich wurden die Sterne am Himmel durch eine wehende Wolke von wirbelnden Weiß ausgelöscht. Sie konnten kaum noch etwas sehen, und die Pferde zu lenken war unmöglich geworden. Thomas hoffte, daß seine Stute den Weg nach Hause und in den Stall finden würde, doch der Schnee fiel immer dichter und der Wind wurde immer heftiger. Immer langsamer wurden die Pferde, denn in dem tiefen Schnee war das Fortkommen noch beschwerlicher.
"Werden wir es noch schaffen??" rief der Händler.
"Ich weiß es nicht!" schrie Thomas zurück, denn jedes normale Gespräch wurde von dem wütenden Wind unterbrochen. Jetzt führte er noch das Geheul von Wölfen mit sich, und die Pferde wurden merklich unruhig. Thomas schnalzte ihnen gut zu, doch es würde ein Glücksspiel werden, noch rechtzeitig nach Hause zu kommen.
Da bemerkte er eine Bewegung aus dem Augenwinkel, und als er genauer hinsah, meinte er, ein Einhorn zu sehen, nur kurz, dann war es wieder hinter dem wirbelnden Schnee verborgen.
Doch auch Arthur, der Sohn des Händlers, hatte das Einhorn gesehen, wie Thomas an seinem verstörten Blick erkannte. Das Wolfsgeheul wurde lauter, der Schnee fiel immer dichter, und der Wind riss ihnen jedes Wort von den Lippen. Immer wieder musste Thomas sich den Schnee aus den Augen wischen, und als schließlich die Pferde stehen blieben, kletterte er aus dem Schlitten - doch er versank bis zur Hüfte im Schnee. Der Händler zog ihn wieder empor und schnallte ihm Schneeschuhe an die Füße, das war schon besser - und vor allem konnte man damit laufen. Thomas hätte es sich ja denken können, daß der Schnee so tief werden würde. Mit der linken Hand nahm er die kleine Laterne, die kaum Licht spendete, aber für Thomas war es der einzge Trost. Er ging zu den Pferden nach vorn, wobei er fast weggeweht wurde, und strich ihnen den Schnee von den Köpfen.
"Na kommt, es ist nicht mehr weit bis nach Hause. Das schaffen wir", redete er ihnen gut zu, denn der Wind war unerbittlich. Mit der Rechten ergriff er die Zügel und wandte sich in die Richtung, in der er das Haus vermutete, und die Pferde folgten ihm schließlich.
Der Schnee trieb ihm die Tränen in die Augen, und schon nach kurzer Zeit wurde jeder Schritt zur Qual. Seine Beine wurden rasch schwerer und schwerer, und die Pferde schienen überhaupt nicht folgen zu wollen. Zudem näherte sich ihnen das Wolfsgeheul, und Thomas befürchtete schon, jeden Moment von einem dieser bissigen Schatten angesprungen zu werden.
Als er schon dachte, er müsste der Länge nach in den Schnee fallen, sah er wieder das Einhorn, wie es durch den Schnee preschte, fast direkt vor ihm. Ein Wirbel aus Schnee, Wind, und Dunkelheit, und doch von so klarer Gestalt, daß es nur ein Schnee-Einhorn sein konnte, von dem ihm seine Großmutter erzählt hatte. Er glaubte seinen Augen nicht zu trauen und meinte, daß ihm seine Sinne einen Streich spielen würden. Doch es war immer noch da, auch, als er verdutzt stehen blieb. Langsam kam es näher, und dann bemerkte Thomas die Ruhe um es herum. Der Sturm schien langsamer zu werden, wenn er auf das Einhorn traf, und der Schnee wirbelte nicht ganz so schnell.
Wie eine unsichtbare Gestalt stand es dort und sah ihn mit klugen schwarzen Augen an, die so endlos wie die Nacht zu sein schienen, und um es herum wirbelte der Schnee und machte es für die menschlichen Augen sichtbar. Thomas war begeistert. Dieses Wesen war wunderschön. Die Pferde hinter ihm konnten es auch sehen, und sie warfen unruhig die Köpfe hin und her.
Die Zeit schien stillzustehen, diesen kurzen Augenblick lang, in dem sich die beiden unter-schiedlichen Wesen in die Augen sahen, dann wurde er jäh unterbrochen, als ein grauer Schatten aus dem Schnee heraus auf sie zusprang. Thomas schrak zurück, die Pferde stiegen in die Höhe und bäumten sich auf, sodaß er Mühe hatte, sie festzuhalten. Das Einhorn wandte den Kopf und war verschwunden.
Thomas fluchte und versuchte, die Pferde zu beruhigen, während er den Wolf beobachtete. Der sah ihn mit gelben Augen unruhig an, wohl wissend, daß er nur ein kleiner, halb erfrorener Bissen sein würde. Der Junge zitterte. Erstens vor Kälte und zweitens wegen diesem unheimlichen Blick, als ob der Wolf eine Intelligenz besaß, die über das hinaus ging, was die Menschen ihnen zuschrieben.
Dann wurde er plötzlich zur Seite geschleudert. Verdutzt und verwirrt zugleich schaute Thomas auf und er erblickte das Einhorn wieder, welches den Wolf mit einem gut gezielten Stoß seines Horns getroffen hatte. Und es hatte seine Freunde dabei. Eine ganze Herde von diesen wundersamen Wesen kam herbeigelaufen, lief um den Schlitten herum und verjagte die Wölfe. Derlei von Einhörnern umgeben, war der Sturm merklich schwächer geworden, und auch die Wölfe trauten sich nicht mehr heran. Mit neuem Mut ging Thomas wieder los, und die Pferde folgten ihm willig. Die Einhörner begleiteten sie bis kurz vor die Hütte, dann stoben sie auseinander und verteilten sich in alle Himmelsrichtungen.
Der Sturm stieß auf den Schlitten hinab wie ein jagender Falke, doch so sehr er auch biss und rüttelte, er konnte die drei Menschen nicht kleinkriegen, die ihr Ziel schon vor Augen hatten. Sie kamen glücklich und heil im Hause der Großmutter an, die schon sehnsüchtig auf die Rückkehr ihres Enkels wartete. Thomas und Arthur schirrten die Pferde ab und schleppten sich müde und verfroren ins Haus. Sogleich begann sie heißen Tee zuzubereiten, ja, sie hatte sogar schon angewärmte Decken bereit liegen.
"Ich dachte schon, ihr würdet es nicht mehr schaffen."
Thomas sah sie an und nickt leise. "Wir hätten es auch nicht geschafft, Oma. Aber die Schnee-Einhörner haben uns gerettet."
Die alte Frau lächelte leise, strich ihm über den Kopf und schwieg.
Manche Dinge sollten eben besser ein Geheimnis bleiben.

Die Bremer Stadtmusikanten

Die Bremer Stadtmusikanten gehören zu Bremen wie das Rad zum Fahrrad. Selbst im Fernen Osten ist die Geschichte von den furchtlosen Tieren bestens bekannt. Diese hier ist frei nach den Brüdern Grimm, die heutzutage vermutlich einen Oscar dafür bekommen hätten.


Es war einmal ein Müller, der hatte einen Esel, welcher schon lange Jahre unverdrossen die Säcke in die Mühle getragen hatte. Nun aber gingen die Kräfte des Esels zu Ende, sodaß er zur Arbeit nicht mehr taugte. Da dachte der Müller daran, ihn wegzugeben. Aber der Esel merkte, daß sein Herr etwas Böses im Sinn hatte, lief fort und machte sich auf den Weg nach Bremen. Dort, so dachte er, könnte er ja Stadtmusikant werden. 
Als er schon eine Weile vor sich hin trabte, sah er einen Jagdhund am Wege liegen, der jämmerlich heulte. 
"Warum heulst du denn so?" fragte der Esel. 
"Ach", sagte der Hund, "weil ich alt bin, jeden Tag schwächer werde und auch nicht mehr auf die Jagd kann, wollte mich mein Herr totschießen. Da hab ich Reißaus genommen. Aber womit soll ich nun mein Brot verdienen?" 
"Weißt du, was?" sprach der Esel, "Ich gehe nach Bremen und werde dort Stadtmusikant. Komm mit mir und laß dich auch bei der Musik annehmen. Ich spiele die Laute, und du schlägst die Pauken." Der Hund war einverstanden, und sie wanderten weiter. 
Es dauerte nicht lange, da sahen sie eine Katze am Wege sitzen, die machte ein Gesicht wie drei Tage Regenwetter.
"Was ist denn dir in die Quere gekommen, alter Bartputzer?" fragte der Esel. 
"Wer kann da lustig sein, wenn es einem an den Kragen geht?" antwortete die Katze. "Weil ich nun alt bin, meine Zähne stumpf werden und ich lieber hinter dem Ofen sitze und schlafe, als nach Mäusen herumjage, hat mich meine Herrin ersäufen wollen. Ich konnte mich zwar noch davonschleichen, aber nun ist guter Rat teuer. Wo soll ich jetzt hin?" 
"Geh mit uns nach Bremen! Du verstehst dich doch auf die Nachtmusik, da kannst du Stadtmusikant werden." 
Die Katze hielt das für gut und ging mit. Als die drei so miteinander gingen, kamen sie an einem Hof vorbei. Da saß der Haushahn auf dem Tor und schrie aus Leibeskräften.
"Du schreist einem durch Mark und Bein.", sprach der Esel, "Was ist mit dir?" 
"Der Köchin wurde befohlen, mir heute abend den Kopf abzuschlagen. Morgen, am Sonntag, haben sie Gäste, da wollen sie mich in der Suppe essen. Nun schrei ich aus vollem Hals, solang ich noch kann." 
"Ei was!" sagte der Esel, "Zieh lieber mit uns fort, wir gehen nach Bremen, etwas Besseres als den Tod findest du überall. Du hast eine gute Stimme, und wenn wir mitsammen musizieren, wird es gar herrlich klingen." 
Dem Hahn gefiel der Vorschlag, und sie gingen alle vier mitsammen fort. Sie konnten aber die Stadt Bremen an einem Tag nicht erreichen und kamen abends in einen Wald, wo sie übernachten wollten. Der Esel und der Hund legten sich unter einen großen Baum, die Katze kletterte auf einen Ast, und der Hahn flog bis in den Wipfel, wo es am sichersten für ihn war. Ehe er einschlief, sah er sich noch einmal nach allen vier Windrichtungen um. Da bemerkte er einen Lichtschein. Er sagte seinen Gefährten, daß in der Nähe ein Haus sein müsse, denn er sehe ein Licht. 
Der Esel sagte: "So wollen wir uns aufmachen und noch hingehen, denn hier ist die Herberge schlecht." Der Hund meinte, ein paar Knochen und etwas Fleisch daran täten ihm auch gut. 
Also machten sie sich auf den Weg nach der Gegend, wo das Licht war. Bald sahen sie es heller schimmern, und es wurde immer größer, bis sie vor ein hellerleuchtetes Räuberhaus kamen. Der Esel, als der größte, näherte sich dem Fenster und schaute hinein. 
"Was siehst du, Grauschimmel?" fragte der Hahn. 
"Was ich sehe?" antwortete der Esel. "Einen gedeckten Tisch mit schönem Essen und Trinken, und Räuber sitzen rundherum und lassen sich's gutgehen!" 
"Das wäre etwas für uns!", sprach der Hahn. 
Da überlegten die Tiere, wie sie es anfangen könnten, die Räuber hinauszujagen. Der Esel stellte sich mit den Vorderfüßen auf das Fenster, der Hund sprang auf des Esels Rücken, die Katze kletterte auf den Hund, und zuletzt flog der Hahn hinauf und setzte sich der Katze auf den Kopf. Als das geschehen war, fingen sie auf ein Zeichen an, ihre Musik zu machen: der Esel schrie, der Hund bellte, die Katze miaute, und der Hahn krähte. Darauf stürzten sie durch das Fenster in die Stube hinein, daß die Scheiben klirrten. 
Die Räuber fuhren bei dem entsetzlichen Geschrei in die Höhe. Sie meinten, ein Gespenst käme herein, und flohen in größter Furcht in den Wald hinaus. 
Nun setzten sich die vier Gesellen an den Tisch, und jeder aß nach Herzenslust von den Speisen, die ihm am besten schmeckten. 
Als sie fertig waren, löschten sie das Licht aus, und jeder suchte sich eine Schlafstätte nach seinem Geschmack. Der Esel legte sich auf den Mist, der Hund hinter die Tür, die Katze auf den Herd bei der warmen Asche, und der Hahn flog auf das Dach hinauf. Und weil sie müde waren von ihrem langen Weg, schliefen sie bald ein. 
Als Mitternacht vorbei war und die Räuber von weitem sahen, daß kein Licht mehr im Haus brannte und alles ruhig schien, sprach der Hauptmann: "Wir hätten uns doch nicht so ins Bockshorn jagen lassen sollen. Wir gehen zurück." Er schickte einen Kumpanen zurück, um nachzusehen, ob noch jemand im Hause wäre. 
Der Räuber fand alles still. Er ging in die Küche und wollte ein Licht anzünden. Da sah er die feurigen Augen der Katze und meinte, es wären glühende Kohlen. Er hielt ein Schwefelhölzchen daran, daß es Feuer fangen sollte. Aber die Katze verstand keinen Spaß, sprang ihm ins Gesicht und kratzte ihn aus Leibeskräften. Da erschrak er gewaltig und wollte zur Hintertür hinauslaufen. Aber der Hund, der da lag, sprang auf und biß ihn ins Bein. Als der Räuber über den Hof am Misthaufen vorbeirannte, gab ihm der Esel noch einen tüchtigen Schlag mit dem Hinterfuß. Der Hahn aber, der von dem Lärm aus dem Schlaf geweckt worden war, rief vom Dache herunter: "Kikeriki!" 
Da lief der Räuber, was er konnte, zu seinem Hauptmann zurück und sprach: "Ach, in dem Haus sitzt eine greuliche Hexe, die hat mich angefaucht und mir mit ihren langen Fingern das Gesicht zerkratzt. An der Tür steht ein Mann mit einem Messer, der hat mich ins Bein gestochen. Auf dem Hof liegt ein schwarzes Ungetüm, das hat mit einem Holzprügel auf mich losgeschlagen. Und oben auf dem Dache, da sitzt der Richter, der rief: 'Bringt mir den Schelm her!' Da machte ich, daß ich fortkam." 
Von nun an getrauten sich die Räuber nicht mehr in das Haus. Den vier Bremer Stadtmusikanten aber gefiel's darin so gut, daß sie nicht wieder hinaus wollten.